Bedeutet das Prinzip des Nicht-Tuns im Shiatsu, dass wir keine Absicht in unserer Arbeit haben? (Paul Lundberg)
Übersetzung: Oliver Scheuvens
Einleitung – Nicht Zen-Shiatsu
Die Kurzantwort auf die Titelfrage muss sicherlich „Nein“ lauten, aber lasst uns zunächst die Gründe dafür ansehen und vielleicht ein par befriedigendere Antworten dafür finden. Zuallererst müssen wir uns einmal klar darüber sein, was wir mit „Nicht-Tun“ meinen. Es wird viel geredet über dieses Thema, im Namen des Zen und in einem Atemzug mit anderen Schlagwörtern wie Spontaneität und Natürlichkeit. Die Verbindung der Idee des Nicht-Tuns mit dem Shiatsu selbst mag etwas mit dem Titel „Zen Shiatsu“ zu tun haben, den Masunaga für sein Buch ausgewählt hat (und der ihm von W. Ohashi als „absatzfördernd im amerikanischen Markt“ vorgeschlagen wurde, wie ich gehört habe), oder schlicht damit, dass das Zen und das Shiatsu in der gleichen Kultur wurzeln, und mehr nicht.
Genau genommen beschäftigt sich Masunagas Arbeit kaum mit dem Nicht-Tun oder mit dem damit verbundenen Nicht-Anhaften, obwohl dem Hara und der natürlichen, einfachen und direkten Qualität der Berührung, die durch das Training des Haras entstehen, in seinem Buch viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, und es gelegentliche Verweise zur Meditation gibt. Im Gegenteil: ist es voller Theorien, die Ki betreffen – abgeleitet aus der chinesischen Philosophie, aus Psychologie und Biologie; ebenso voll von vielen Behandlungstechniken, diagnostischen Interpretationen und beabsichtigten Ergebnissen.
Somit stammt die Idee der Absichtslosigkeit und des Nicht-Tuns also nicht aus dem Zen-Shiatsu selber, aber möglicherweise aus dem Zen. Die meisten von uns werden dieses, den daoistischen und buddhistischen Philosophien – oder einer Mischung von beiden – entspringende Prinzip, und bis zu einem gewissen Grad seine Anwendung, kennen. In der Tat hat der chinesische Ch’an-Buddhismus viele daoistische Einflüsse aufgenommen und war der Vorläufer des japanischen Zen.
Etwas persönlicher Hintergrund
Eigentlich ist es der klassische Bericht „Zen und die Kunst des Bogenschießens“, durch den in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts der Zen-Trend ausgelöst wurde, der die geistige und körperliche Disziplin, welche dem Zen eigen ist – und das Konzept der mühelosen Anstrengung! – lebendig werden lässt. Zumindest mir hat dieses kleine Büchlein einen frühen Einblick in die Art gegeben, mit der der Buddhismus und insbesondere das Zen das Problem der paradoxen Natur der Existenz, der Verwirklichung des Selbst und des Handelns in der Welt angeht. Von Autoren wie D.T. Suzuki, Arthur Waley und Alan Watts erfuhr ich mehr über die buddhistische Meditation, über die Leerung des Geistes von konzeptuellen Gedanken, das Problem des „Wu Wei“ (Nicht-Tuns) und seiner Übersetzung in das Prinzip der reinen Spontaneität, „Wei-wu-wei“ (Tun im Nicht-Tun). Ein wenig später lernte ich selbst buddhistische Meditationspraktiken und begann somit eine ernsthaftere innere Reise.
Unter meinen vielen Führern auf diesem verschlungenen Pfad, der das Studium und die Praxis des Shiatsu beinhaltet, war mein Langzeit-Mentor und Freund Akinobu Kishi. Er ist ordinierter Shinto-Priester und hat auch das Rinzai-Zen studiert und diese Sichtweise des Lebens und Art der Heilung gemeistert. Er hat zehn Jahre mit Masunaga gearbeitet und war sein führender Assistent, bevor er seinen eigenen Weg ging. Er bewegt sich außerhalb des Mainstreams, doch die Entwicklung des Shiatsu während der letzten zwanzig Jahre ist zweifellos immer wieder tief durch seine Querströmung beeinflusst worden.
Ich habe ihn 1981 getroffen und bin ihm nach Japan gefolgt, um von ihm zu lernen. Seither habe ich viele Stunden mit Kishi verbracht, in formalem Unterricht sowie im Genuss alltäglicher Verrichtungen. Unter seinem Einfluss habe ich ganz konkret mein eigenes Gefühl für, und meine eigene Form von spontanem Behandeln entwickelt, das gleichzeitig formal, jedoch ohne fixe Form, voller Absichten, aber ohne besondere Ziele ist; eine Zeremonie des Lebens und Bewegung voller Möglichkeiten, und doch zutiefst leer.
Mein Interesse an der Daoyin-Tradition hat mich ebenfalls dazu geführt, von einem anderen Meister im Gebiet des Qigong und der Heilung zu lernen, nämlich Dr. Shen Hongxun. Durch seinen Unterricht hat sich das Daoyin für mich als eine Praxis bestätigt, welche sich zutiefst mit der „Anstrengung ohne Anstrengung“ beschäftigt. Nun, ich habe es als eine lebenslange Disziplin gewählt, und somit fühle ich mich in der Lage, zur gegenwärtigen Diskussion etwas beizutragen.
Zurück zur Frage (oder zu den Fragen)
„Still sitzend, nichts tuend – der Frühling kommt, und das Gras wächst von alleine.“. Dieses eloquente Zen-Sprichwort drückt etwas sehr Essentielles über Meditation und das Prinzip des Nichteingreifens, das auch sehr daoistisch ist, aus. Laozi schreibt, „Willst du die Welt verbessern? Ich glaube nicht, dass dies erreicht werden kann. Die Welt ist heilig, und kann nicht verbessert werden. Wenn du dich einmischst, wirst du sie ruinieren“ usw. Daoisten sind also bestrebt, einfach mit dem Fluss zu gehen. Das bedeutet aber, den Fluss zu studieren. In Verbindung zum Behandeln stellt sich die Frage: „Was ist die Funktion, die Aufgabe dieser Krankheit und seiner Symptome für die Person, die wir vor uns haben?“. Dann müssen wir uns mit dieser Funktion in eine Linie stellen, sonst werden unsere Handlungen gegen den Fluss laufen.
Zurück zur Meditation, oder dem „Nur Sitzen“: Zazen
Eines der ersten Dinge, die klar werden, ist, dass nichts zu tun unmöglich ist. Neben den offensichtlichen Dingen wie atmen und die gelegentlichen Gedanken zu denken realisiert man schnell, dass nur zu sitzen bedeutet, sehr wohl etwas zu tun, und dass das sogar ziemlich schwierig ist, wenn man versucht, damit fortzufahren. Geht es nicht genau darum in dieser Übung? Wenn dies so ist, dann ist es unsere Absicht, zu üben, und die Praxis besteht darin, weniger außen zu tun und mehr innen – wir sind darauf bedacht, den Geist und den Körper in einer gewissen Weise zu trainieren. Dies bedeutet, aufmerksamer zu werden; unser Bewusstsein grundsätzlich durch die Praxis der Beobachtung des Selbst und der Welt zu entwickeln; vielleicht die Sinneswelten zu erforschen und sich der Unbeständigkeit oder illusorischen Natur der Existenz bewusst zu werden, um sich von den Anhaftungen des Egos zu befreien, welche nichts außer Leiden verursachen, und den ganzen Rest dieses Buddhismus-Hypes.
Wenn man einmal damit begonnen hat, enthüllt die Meditation schnell den unmöglichen Irrsinn des Nicht-Tuns, Nichteingreifens, Nur-Sitzens, dem ganzen Zeug. Die Entscheidung, nichts zu tun, kann in der Welt ebenso beeinflussend und radikal sein, wie etwas zu tun. Vielleicht sollten wir handeln, aber wenn, dann wie? („Timing ist alles“ – wieder Laozi). Und wir können nicht einmal vor dieser Verantwortung flüchten indem wir entscheiden, nicht zu entscheiden, oder das ganze Spektrum oder die Spektren neuer Fragen zu ignorieren und zu hoffen, dass sie alle wieder weggehen. Meditation weckt dich auf, und sie kann etwas Angst einflössendes sein. Aber es zeigt die Angelegenheit der Absichtslosigkeit klipp und klar. Wenn wir absichtslos sind, dann schlafen wir. Das Problem ist, dass viele von uns wirklich schlafen, oder träumen, auch wenn wir einige Absichten haben. Was ist eigentlich unsere wahre, wirkliche Intention?
Und nun die vierundsechzig-Euro-Frage – Was hat die ganze Sache, oder Nichtsache, mit Shiatsu zu tun? Was ist Shiatsu überhaupt? Vielleicht sollten wir darüber meditieren, bevor wir weitergehen.
Vielleicht ist Shiatsu eine Meditation an sich und das ist es, was der Titel impliziert? Aber warum unsere Klienten in unsere persönliche Praxis einbeziehen? Sie wollen ja etwas von uns, nicht wahr, wie Medizin oder Heilung, Diagnose oder Rat? Natürlich tun sie das. Wir haben es vorgeschlagen. Was ist dann all dieses Nichtstun-Zeug?
Ah, ich weiß! Es muss bedeuten, unsere Impulse, zu handeln, zu behandeln, die Form auszuführen, dem Ki zu folgen, Ratschläge zu geben etc. zu beobachten, und nicht bloß das ganze Programm durchzubringen. „Um die Essenz der Krankheit zu heilen, nimm nicht einmal ein Quäntchen Medizin oder singe eine einzige Silbe einer heilenden Zeremonie. Sieh Krankheit weder als Hindernis, noch als Tugend. Lass Deinen Geist unfabriziert und frei – durch den Fluss der konzeptuellen Gedanken schneidend….. etc.“ (Padmasambhava).
Gebt, schafft etwas Raum, das ist alles! Nehmt es leicht, kühlt etwas ab und entspannt Euch – sitzt damit; sitzt mit dem Klienten. Müssen wir wirklich den ganzen Tag das Ki jagen? Wird der Berg nicht zum Propheten kommen?
„Nicht-Tun“, nichts, es ist das Fragen, das zählt – die Praxis; die Verletzlichkeit des Nicht-Wissens, die Sensibilität, und das Gespür für Leben, das kommt.
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© Paul Lundberg begann 1974 Shiatsu zu studieren, 1975 auch Akupunktur. Seine Gradierung erhielt er 1978 vom International College of Oriental Medicine. In derselben Zeit wurzelt auch sein Interesse an Taiji und Qigong. Während seiner 25jährigen Zeit des Praktizierens und Unterrichtens von Shiatsu und Akupunktur studierte er fortwährend sowohl Chinesische als auch Japanische Heilmethoden und vergleichbare moderne westliche psychophysische Therapieansätze, wobei er mit vielen international anerkannten Meistern arbeitete. Insbesondere verbindet ihn eine lange Zeit der Lehre und Mitarbeit mit Akinobu Kishi. Seit 1981, als er zum ersten Mal nach Japan fuhr, um Shinto-Heilung und Seiki mit Kishi zu studieren, liegt sein Augenmerk auf der Integration des Verständnisses und der Praxis von Seiki in seine eigene Arbeit. Als Mitbegründer des Shiatsu College in Großbritannien (London, 1986) hat er anschließend eine Zweigstelle des College in Brighton eröffnet, die er fünf Jahre lang leitete. Er ist Autor des “Book of Shiatsu” (1992, 2003), das mittlerweile in zwölf Sprachen verlegt wird. Zur Zeit verbringt er die meiste Zeit des Jahres in Tenerifa mit Schreiben. Zudem gibt er weiterhin Kurse und Seminare in Großbritannien, Spanien und anderen Europäischen Ländern. Der vorliegende Artikel ist Teil des Kongressbandes „Europäischer Shiatsu-Kongress Kiental 2004“ (www.kientalerhof.ch, +41 (33) 6762676)