Auch Treibgut will nach Hause – wenn Schmerz auf dem Ki-Fluss reist (Alena Maria Schneider)
Mona ist eine junge Mutter, deren kleiner Sohn gerade Kummer über den Tod seines Hamsters hat. Sie erzählt mir vor der Shiatsu-Behandlung davon, dass es ihr erstaunlich schwer fiel, dem Jungen in seiner Kindertrauer beizustehen. Erst nach mehreren Anläufen gelang es ihr, ein passendes Begräbnis-Ritual für das Tierchen zu gestalten, das ihrem Sohn half Abschied zu nehmen und Trost zu finden. Ihr fällt ein, dass auch sie als Kind einmal einen Hamster hatte. Dieser war krank geworden und wurde von den Eltern noch lebendig ins Klo gespült. Mona berichtet das knapp und sachlich mit einem resigniert wirkenden Hinweis auf die Hilflosigkeit der Eltern.
Zu Beginn der Shiatsu-Behandlung begegnet mir eine kompakt im Hara verschlossene Energie, fest umgrenzt und sehr geheim. Meine innere Frage bei der Kontaktaufnahme mit dem Hara lautet: Von wo aus will Entwicklung geschehen?
Es bieten sich an: die Lungenenergie, die Herzenergie und die Blasenenergie. Ich beginne damit über den Brustkorb und die Arme dem Lungenmeridian und dem Herzmeridian zu folgen. Beide zeigen sich in einem brisanten Zustand. Sie wirken als ringen sie um Etwas. Die darin wohnende Stagnation mutet mich splittrig und spröde an wie Eiskristalle. Ich gehe mit intensiver Verbindung zwischen Mutterhand und Wandernder Hand ruhig und behutsam in die Tiefe. Mona beginnt heftig zu frieren. Ihr Atem verliert sein selbstverständliches Schwingen als begänne er um Luft zu ringen. Sie kneift die Augen fest zu und sagt mir, dass sie Angst empfinde und das Gefühl habe gelähmt zu sein, wie vergiftet. Sie empfinde eine Schwere, als sei sie lebendig begraben. Ihr Erleben wirkt heftig und alptraumhaft bedrohlich. Dieser alptraumhafte Zustand zeigt sich, als Lungen- und Herzenergie ins Fließen kommen. Eine aufblühende kraftvolle Ki-Bewegung entfaltet sich über die Herzenergie im Brustraum. Mit dieser aufblühenden Energie verbünde ich meinen Geist und die Berührung.
Ich bitte Mona mit wenigen Worten, freundlich und klar, in einer deutlich die Führung übernehmenden Sprache, die Augen zu öffnen und zu schauen, wo sie ist. Es gibt einen Moment des Widerstrebens und ich wiederhole meine Aufforderung. Dann bitte ich sie, mit den Zehen zu wackeln und sich einmal bis in die Füße hinein zu bewegen. Es gibt hier für meine Wahrnehmung keinerlei Anlass den Alptraum sich fortsetzen zu lassen.
Ich frage sie, wie sie sich in der Mitte des Brustraumes fühle, und sie sagt mit leiser Verwunderung, da sei etwas Lebendiges in Bewegung. Ich bestätige das ermutigend und sage: „ Da hat etwas Kraft und klingt für mich wie ein Gong.“
Mona weint heftig und rollt sich auf die Seite, birgt den Kopf in meinem Schoß, wie ein verzweifeltes kleines Kind. Auf mich wirkt das, als versuche sie mit dieser Geste unter ihrem Schmerz wegzutauchen und Zuflucht zu suchen. Ich lege meine Mutterhand auf ihren Kopf und meine andere Hand auf den Bereich zwischen ihren Schulterblättern. So begegnet meine linke Hand aus leisem unaufgeregtem Mitgefühl dem Kind in ihr, während meine rechte Hand unverdrossen in verbündetem Kontakt mit dem gonghaften Klang der Brustkorbenergie bleibt. Diese zeigt ein leichtes Zagen und blüht dann unter meiner in die Tiefe gerichteten Aufmerksamkeit weiter auf.
Ich erzähle Mona in der Tonlage meiner eigenen ruhigen Freude von diesem Lebensklang, den das Leid nicht klein kriegt und bitte sie dorthin zu spüren. Meine Sprache bleibt leise, höflich und führend. Ich gebrauche sehr wenige Worte, so dass wie in einem Gedicht der Klang zählt. Ich möchte die Behandlungsebene jetzt nicht in ein verstandesmäßiges Denken holen. Der erreichte schwebende Ki-Zustand soll weiter tragen.
Mona wirkt aufmerksam in sich hineinhorchend und leicht verwundert – wie jemand, der in einer endlos erscheinenden Nacht entdeckt, dass die Morgendämmerung bereits fortgeschritten ist. Das Weinen ebbt ab. Shen beginnt ihr Gesicht zu erfüllen. Es zeigt einen rosigen Schimmer. Ich bitte sie, sich langsam wieder auf ihren Rücken zu rollen und sage, ich würde gerne meine Hände unter ihren Rücken legen.
Sie wirkt jetzt auf eine zarte Weise erwachsen. Etwas findet zueinander: die kleine schreckerstarrte, verletzte Mona und die schöne, erwachsene geistig wache Frau. Meine Hände unter ihrem obigen Rücken sind jetzt dort, wo die Feuer- und die Wasserenergie intensiv kommunizieren. Die tragende Geste hält die Seite des verletzten Kindes, die sich gerade integriert. Gleichzeitig bleibe ich die Verbündete der weiter aufblühenden Lebendigkeit, die sich bis hinunter in die Füße auszubreiten beginnt.
Meine Aufmerksamkeit und dann auch meine Berührung folgen diesen Strömen bis zu den Füßen, die überhaupt nichts Gelähmtes mehr an sich haben. Ich arbeite bestätigend mit dem sich befreienden Fluss als sei ein jedes Eintauchen ein großgeschriebenes JA. Mein Geist flirtet weiter mit der Quelle des Aufblühens im Brustraum. Mona lächelt. „Das bin ganz ich“, sagt sie auskostend, „ganz ich.“ Und dann, ich bin noch an ihren Füßen, fügt sich sehr nachdrücklich hinzu: „Alena, das war jetzt wichtig, dass wir nicht stecken geblieben sind, nicht als ich solche Angst hatte und nicht als ich mich auf deinen Schoß rollte. Darum geht es nämlich nicht.“ Ihre Worte verweilen einen Moment in aufmerksamer Stille. Dann fährt sie fort: „ Es geht darum, dass ich ich bin! Und ich gehe anders um mit dem Leben wie mit dem Tod als meine Eltern.“ Ein klarer selbstbewusster Mensch verlässt bewegt und aufrecht meine Praxis.
An diesem Beispiel lässt sich vieles veranschaulichen, was mir im Umgang mit heftigen Gefühlen, die im Shiatsu auftreten können, wichtig ist. Ich betrachte sie als Treibgut, das auf dem Ki-Strom reist, wo dieser lebendig wird. Dabei wird es im Bewusstsein angeschwemmt. Dieses Treibgut will angesehen werden, das wichtige aber ist der Fluss.
So wie ich im Shiatsu geistig nicht auf die Stagnationen im Ki starre, sondern mich brennend für die Frage interessiere, von wo aus Entwicklung geschehen möchte, so erliege ich auch nicht der Faszination an auftauchenden starken Gefühlen.
Es ist wichtig, sich selbst immer wieder klar zu entscheiden: Womit will ich mich in einer Shiatsu-Behandlung verbünden? Es kann einem Menschen überaus hilfreich sein, Raum zu finden sich auszuweinen oder auszuwüten. Hier gilt es da zu sein als Gegenüber mit Wachheit und Mitgefühl. Es gilt den Kontakt zu halten, sich eventuell fragend oder bestätigend zu äußern und mit Feingefühl und Takt wieder in die Shiatsu-Behandlung einzusteigen. Es gilt den Gefühlen ihren Raum zu geben und gestaltende Grenzen darum zu legen.
Manche Gefühle tauchen im Shiatsu auf und ziehen weiter. Es ist als ob Wolken von weiß bis finster über einen blauen Himmel ziehen. Hier kann man einfach freundlich mit dem Ki weiterwandern, ohne dass ein Wechsel der Ebenen notwendig würde. Ganz anders ist das, wenn heftige Gefühle auftauchen, die sich verselbständigen und eine Qualität des Kontaktverlustes zeigen. Hier heißt es ohne wenn und aber einen klaren Kontakt im Hier und Jetzt herzustellen. Dazu gehört, den Menschen deutlich anzusprechen, ihn beim Namen zu nennen, ihn aufzufordern die Augen zu öffnen, klar und führend einen Weg in die Wirklichkeit zu zeigen. Es macht keinen Sinn über die Arbeit am Ki einen Menschen in Alpträume gleiten zu lassen.
Machen wir uns noch einmal bewusst, was geschieht
Wenn ich beim Bild des Treibgutes bleibe, das in den Strömen der Lebensenergie wohnt, oft dem Bewusstsein verborgen, oft eingekapselt, um der Seele keinen weiteren Schaden zu tun, so gibt es im Shiatsu Momente, wo die Zeit reif ist, dieses Treibgut wieder in den schwingenden Fluss der eigenen Lebendigkeit zu holen. Oftmals ist es so, dass im Alltag eine Situation eingetreten ist, die die Geschichte des Treibgutes streifte.
Oder durch die Verkapselung sind Stagnationen in der Lebensenergie entstanden, die zu Beschwerden und Krankheit führen und so ein Zeichen setzen, dass hier etwas nach Lösung sucht. Manchmal ist es auch einfach so, dass in einer Behandlungsgeschichte, in der ein Mensch übers Shiatsu tief überzeugend erlebt, welche Qualität und Hoffnung in einem freien Fluss der Lebensenergie wohnt, die Sehnsucht so groß wird, sich dem hinzugeben, dass Treibgut hineingerissen wird in den sich mit Macht befreienden Strom. Die Arbeit mit Berührung und Ki hat zudem eine immense Kraft, die für einen Menschen, der solches nicht kennt und dessen Bewusstsein diese Erfahrung nicht so ohne weiteres einzuordnen weiß, überrumpelnd sein kann. Wir müssen uns, wenn wir als Shiatsu-Praktikerin tief mit Ki arbeiten, immer wieder klar darüber sein, dass unsere Shiatsu-Partnerinnen nicht unbedingt jahrelange Erfahrungen damit haben, wie sich Ki in seinen Bewegungen und Stagnationen im Bewusstsein äußert.
Es gibt Menschen, deren Abwehrmechanismen (im besten Sinne) ihnen einen guten Schutz bieten, so dass sie wenig Erschütterung erleben, während sich Treibgut in den Ki-Strömen losreißt und in Bewegung kommt. Ich habe es schon oft in Shiatsu-Behandlungen erlebt, dass ein Mensch in seinem Ki, seinem Atem, ja bis ins Herz in Turbulenzen gerät, die sich dann wieder integrieren, ohne dass es der Betroffene bewusst erlebt. Andere stehen in solchen Fällen mit nacktem Bewusstsein in Sturm und Erdbeben. Sie brauchen Vermittlung Behütung und eine klare mütterliche Führung in die Integration.
Der fatalste Fehler, der in Shiatsu-Kreisen zuweilen gemacht wird, ist die Faszination für das Auftauchen heftiger, sich verselbständigender Gefühle und Erschütterungen.„Da kommt was hoch“, wird das oft genannt und pauschal als etwas irgendwie schon therapeutisch Effektives angesehen. Durch das Auftauchen heftiger Empfindungen vielleicht gepaart mit einer dazugehörigen heftigen Geschichte entsteht aber per se keinerlei Heilungserfolg! Es kann sogar passieren, dass sich eine traumatische Erfahrung in ihren Ki-Spuren bestätigt und verfestigt und die Seele angesichts hochbrandenden Schmerzes erst recht kapituliert. Zudem kann die Shiatsu-Partnerin in ein regressives Erleben eintauchen, das sich von ihrer erwachsenen Selbstregulation abkoppelt und für sie nicht mehr hantierbar ist. Taucht jemand im Shiatsu in heftige Gefühle ab, die einen deutlichen Kontaktverlust im Hier und Jetzt erkennen lassen, so ist es schlicht ein Kunstfehler, diesen Menschen in seinen Alptraum gleiten zu lassen, und sich einzubilden, da geschehe etwas Heilendes.
Es geht dann vielmehr darum, wie oben schon erwähnt, den Kontakt im Hier und Jetzt zu errichten wozu gehört, den Menschen mit Namen zu nennen, die Aufforderung die Augen aufzumachen, Blickkontakt, kein sanftes Halten, sondern eine sehr klare deutliche Berührung, ein verantwortliches Übernehmen der Führung, bis ein Stadium erreicht ist, in dem die Shiatsu-Partnerin mit einem guten Anteil Erwachsensein wieder bei sich ist.
Eine große Rolle für die Chance der Heilung spielt eine sorgfältig erarbeitete tragfähige Beziehung zwischen Behandlerin und Shiatsu-Partnerin. Vertrauen, das auf Erfahrung zurückgreifen kann, dient dem Leben mehr als ein Loslassen der Selbst-Regulation und ein sich hineinstürzen in ein regressives Erleben auf Gedeih und Verderb. Manchmal wird es irrtümlicherweise “sich einlassen“ genannt, obwohl es mehr den Namen Selbstaufgabe oder „sich ausliefern“ verdient und oft eine fatale Wiederholung alter Verlorenheit darstellt, die nirgends ankommt.
In Monas Behandlung gab es zwei Klippen, die sie selbst am Ende der Behandlung auf den Punkt genau benannte. In beiden steckte ein Potential zur heilenden Integration wie zum Abgleiten in einen Alptraum der Seele bzw. in die Regression. Als ich beim Einstieg in die Behandlung dem Hara mit der Frage begegnete, von wo aus Entwicklung geschehen möchte, statt in der Stagnation nach der unbeweglichsten Verdichtung zu schauen, stellte ich bereits die Weiche. Ich ließ mich dahin führen, wo der leib-seelische Organismus meiner Shiatsu-Partnerin seine Chance sah, sich aus einer festgehaltenen sicherlich als bedrohlich erlebten Situation herauszubewegen.
Die scheinbar paradoxe Zeitgleichheit, die dann eintrat, gibt es im Shiatsu nicht selten: Lösung und Schmerz betreten Hand in Hand die Bühne. Leid braucht Hoffnung, um sich zu zeigen.
Natürlich schenke ich dem Leid meine Aufmerksamkeit, wie auch immer es sich äußert. Aber ich mache es nicht zum Mittelpunkt des Geschehens. Im Shiatsu gilt es sich zu jedem Zeitpunkt sehr fein zu entscheiden, womit man sich verbündet. Meine geistige Verbündung gilt dem, was in sein lebendiges Strömen findet. Das Treibgut des mitgeschwemmten Leides erzählt eine Geschichte und diese braucht Begegnung und Mitgefühl aus der Welt des Jetzt und im lebendigen Kontakt, in dem die alten Grausamkeiten nicht regieren.
Deshalb nehme ich Monas Alptraumerleben wahr, wecke sie aber hinein in unseren heutigen Kontakt und in die heutige freundlich tragende Umgebung, in der kein Spuk Schrecken verbreitet. Mit ihrem Umwenden auf die Seite und ihrem heftigen Weinen gleitet Mona in eine Regression, in kindliches Erleben, das die tragende, tröstende Nähe der Mutter sucht.
Ich verstehe diese Regression als ein Zurücksinken auf das Niveau, das in dieser schmerzhaften Situation trägt und von wo aus ein gestärktes Wachsen ins Heute wieder möglich wird. Aber auch hier entscheide ich mich, womit ich mich geistig verbünden will. Und das ist und bleibt diese kraftvoll aufblühende Herzenergie, die ja schon längst laut und deutlich gesagt hat: Ich übernehme die Führung. Von hier geschieht Heilung.
Das würde ich verspielen, wenn ich mich jetzt zur Verbündeten der Regression machen würde. Ich würde Mona auf mich beziehen und in eine Abhängigkeit geleiten, die hier unangemessen wäre. Würde ich andererseits zurückweisend reagieren und an dieser Stelle an die erwachsene Mona appellieren, brächte ich ihre Heilungsbewegung aus dem Gleichgewicht. Denn ich würde ihr ureigenes Schwingen zwischen kindlichem Schmerz und reifer Verarbeitung brechen und sie überfordert zurücklassen. Meine Aufgabe ist es, dieses Heilungsschwingen wahrzunehmen, einzuschätzen, zu begleiten und zu hüten und eben die Verbündete der Energie zu bleiben, die die Lösung schon in die Hand genommen hat. Mona ist eine Frau mit einem sehr klaren, wachen Bewusstsein, und es ist leicht mit ihr in diesem Heilungsschwingen zu arbeiten. Ich danke ihr sehr, dass ich ihre Geschichte verwenden darf, um zu verdeutlichen, was mir in der Begegnung mit im Shiatsu auftauchenden heftigen Gefühlen wichtig ist.
Bleibt mir noch zu sagen, dass es immer wieder vorkommen wird, dass in der Arbeit mit Ki und Berührung sich etwas löst, das mit starken Emotionen einhergeht. Therapeutisches Können zeigt sich aber nicht darin, dass Menschen „an etwas rankommen“. Wirklich revolutionäre und tragfähige Entwicklung geht nicht mit einem emotionalen Urknall einher. Es geht vielmehr darum, dass wir mit Menschen stetig und nachhaltig an einem neuen Weg bauen. Das braucht Geduld und Echtheit und Abstinenz gegenüber der Faszination an emotional heftigem Erleben und schrecklichen Geschichten.
Die eigene mit leichter Hand ausgerichtete Geisteshaltung, die klare Entscheidung womit ich mich verbünde und ein integratives Arbeiten mit dem Ki legen den Grundstein für ein glückliches Gelingen.
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© Alena Maria Schneider leitet in Hamburg den Frühlingsgarten (22763 Hamburg, Bei der Rolandsmühle 6, Tel. +49 40 881 32 09, www.fruehlingsgarten.org), ein Studio für Taichi, Qigong und Shiatsu. Sie ist von der GSD zur Ausübung von Shiatsu Praxis und Lehre anerkannt und Autorin des Buches “Wenn Lachen und Weinen einander freundlich grüßen – Shiatsu-Wege der Entfaltung” (veröffentlicht in Shiatsu Journal 43, Winter 2005, und “Wenn Lachen und Weinen einander freundlich grüßen – Shiatsu-Wege der Entfaltung”, Verlag Ganzheitlich Leben, 2005)