Emotionen und Bewusstsein. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

Die moderne neuropsychologische Forschung macht deutlich, dass Bewusstsein und Emotionen nicht zu trennen sind. Emotionen rufen (und dafür ist Bewusstsein eine notwendige Voraussetzung) Gefühle hervor, die wiederum den Menschen, der sie erlebt und erfährt, über das unmittelbare Hier und Jetzt hinaus beeinflussen. Das Fühlen von Emotionen setzt allerdings nicht notwendigerweise voraus, dass der fühlende Organismus sich der Emotion und der Gefühle, die sich in ihm entfalten, bewusst ist. Unterscheiden lassen sich drei Verarbeitungsstadien von Emotionen[1]Hier ist eine klare Differenzierung von Emotionen und Gefühlen wichtig: Emotionen sind nach außen gerichtet und öffentlich und wirken auf den Geist durch die Gefühle, die nach innen gerichtet und … weiterlesen:

  • emotionale Zustände, die nichtbewusst ausgelöst und ausgeführt werden,
  • Gefühlszustände, die nichtbewusst repräsentiert werden, und
  • bewusst gemachte Gefühlszustände, in denen der Organismus weiß, dass er sowohl Emotionen als auch Gefühle hat.

Emotionen, so die Kernthese von Damasio, wurden im Laufe der Evolution wahrscheinlich schon vor dem Auftauchen des Bewusstseins angelegt und melden sich in uns allen, wenn wir auf Auslösereize reagieren, die wir häufig gar nicht bewusst wahrnehmen. Ihre endgültigen und dauerhaften Wirkungen aber erreichen Gefühle erst durch ihren nach innen gewendeten und letztlich bewussten Status.

Auf frühen Stufen sind innere organismische Zustände, die den Hintergrund unseres Geistes bilden (wie z.B. auch Emotionen) dem Organismus, der sie erzeugt, vermutlich vollkommen unbekannt. Die Zustände erfüllen – und das ist ausreichend – eine regulatorische Funktion. Sie rufen innere oder äußere Handlungen hervor, die nützlich sind, oder sie tragen indirekt zu solchen Handlungen bei, indem sie die Ausführung wahrscheinlicher machen. Es gibt hier Leben, es gibt Sein, aber kein Wissen (darüber), weil das Bewusstsein noch nicht begonnen hat.

Emotionen so zeigen neurologische Studien, sind sowohl unter günstigen wie auch ungünstigen Bedingungen ein integraler Bestandteil von Denk- und Entscheidungsprozessen.[2]Menschen, die – infolge neurologischer Schädigungen – eine bestimmte Kategorie von Emotionen verloren haben, verlieren damit parallel dazu auch die Fähigkeit, soziale Entscheidungen zu … weiterlesen Eine Reduktion der Emotionen ist für die Vernunft mindestens genau so nachteilig wie allzu heftige Emotionen. Vernünftiges Denken und Entscheiden (besonders, wenn es um persönliche und soziale Probleme geht, die mit Risiko und Konflikt zu tun haben) ist ohne den Einfluss von Emotionen offenbar nicht möglich.[3]Natürlich können und sollen Emotionen die Vernunft nicht ersetzen. So wie rein emotionale Entscheidungen problematisch sind, führt allerdings auch die Abwesenheit von Emotionen zu … weiterlesen


Von der Emotion zum bewussten Gefühl

Der Weg von der Emotion, die nicht bewusst sein muss, zum Fühlen des Gefühls (zur bewussten Wahrnehmung eines Gefühls) besteht aus fünf Schritten:

  • Inanspruchnahme des Organismus durch einen Emotionsauslöser, beispielsweise ein bestimmtes Objekt, das visuell verarbeitet und repräsentiert wird (unabhängig davon, ob das Objekt erst bewusst gemacht oder wieder erinnert wird).
  • Signale, die sich aus der Verarbeitung der Objektvorstellung ergeben, aktivieren neuronale Gebiete, die vorprogrammiert sind, auf die besondere Klasse von Auslösereizen zu reagieren, zu der das Objekt gehört (emotionsauslösende Regionen).
  • Die emotionsauslösenden Regionen rufen eine Anzahl von Reaktionen hervor, die für den Körper und für andere Gehirngebiete bestimmt sind. Sie setzen das gesamte Spektrum von Körper- und Gehirnreaktionen frei, das eine Emotion konstituiert.
  • Neuronale Karten erster Ordnung in subcorticalen und corticalen Regionen repräsentieren Veränderungen im Körperzustand Gefühle entstehen (hervorgerufen durch “Körperschleifen”, “Als-ob-Körperschleifen” oder eine Kombination beider).
  • Das Muster neuronaler Aktivität in den emotionsauslösenden Gebieten wird in neuronalen Strukturen zweiter Ordnung abgebildet. Die Veränderungen im Proto-Selbst werden ebenfalls in neuronalen Strukturen zweiter Ordnung abgebildet. Ein Bericht der ablaufenden Ereignisse, der eine Beziehung zwischen dem “Emotions-Objekt” (der Aktivität in den emotionsauslösenden Gebieten) und dem Proto-Selbst darstellt, wird auf diese Weise in Strukturen zweiter Ordnung organisiert.

Wesentlich zum Verständnis von bewussten Gefühlen ist vor allem:

  • dass der Ausdruck (die Emotion) dem Gefühl vorangeht, und
  • dass “ein Gefühl haben” nicht das gleiche ist wie “ein Gefühl erkennen”. Die Reflexion über Gefühle ist ein weiterer Schritt “nach oben”.

Gemeinsam ist den drei Phänomenen Emotion, Gefühl und Bewusstsein ihre Körperbezogenheit und dass alle diese Phänomene auf Repräsentationen angewiesen sind.[4]Die Körperbezogenheit von Gefühlen zeigt sich auch deutlich in neurologischen Erkrankungen: Je höher beispielsweise eine Schädigung im Rückenmark angesiedelt ist, desto stärker sind die … weiterlesen Bei allen Vorgängen richten sich die emotionalen Reaktionen sowohl auf den Körper im engeren Sinne als auch auf das Gehirn. Das Gehirn ruft erhebliche Veränderungen in den neuronalen Verarbeitungsprozessen hervor, die einen stattlichen Teil dessen ausmachen, was wir als Gefühl wahrnehmen. Der Körper ist also weder die einzige Bühne für Emotionen noch die einzige Quelle von Gefühlen.


Quelle

Antonio R. Damasio – “Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins”. Ullstein Taschenbuchverlag (List) , München 2002

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Hier ist eine klare Differenzierung von Emotionen und Gefühlen wichtig: Emotionen sind nach außen gerichtet und öffentlich und wirken auf den Geist durch die Gefühle, die nach innen gerichtet und privat sind. Emotionen bezeichnen all jene Reaktionen, die größtenteils öffentlich zu beobachten sind (Mimik, Gestik etc.), während Gefühle die privaten, mentalen Erfahrungen von Emotionen bezeichnen.
2 Menschen, die – infolge neurologischer Schädigungen – eine bestimmte Kategorie von Emotionen verloren haben, verlieren damit parallel dazu auch die Fähigkeit, soziale Entscheidungen zu treffen (obgleich sie die Logik des Problems weiterhin zweifelsfrei erkennen können).
3 Natürlich können und sollen Emotionen die Vernunft nicht ersetzen. So wie rein emotionale Entscheidungen problematisch sind, führt allerdings auch die Abwesenheit von Emotionen zu Entscheidungsproblemen.
4 Die Körperbezogenheit von Gefühlen zeigt sich auch deutlich in neurologischen Erkrankungen: Je höher beispielsweise eine Schädigung im Rückenmark angesiedelt ist, desto stärker sind die Gefühle beeinträchtigt. Ist die Motorik des Organismus größtenteils zerstört (wie z.B. beim Locked-In-Syndrom, bei dem nur noch vertikale Augenbewegungen möglich sind), so verändert sich die Emotionalität weitgehend, da die Emotionen nicht mehr über den Körper “inszeniert” werden können. Sie sind nun auf die “Als-ob-Körper”-Mechanismen beschränkt – wobei Damasio davon ausgeht, dass die “Körperschleife” von größerer Bedeutung für das Erleben von Gefühlen ist und die “Als-ob-Körperschleife” mehr als Ergänzung dient.