90 Jahre Shiatsu – Meine Geschichte zur Geschichte des Shiatsu (Peter Itin)

Legende und Wirklichkeit

Wie hiess der Erfinder des Shiatsu? Eine einfach zu beantwortende Frage, schon fast eine klassische Prüfungsfrage, dachte ich mir beim Verfassen des Buchs „Shiatsu als Therapie“. Ich wollte in diesem Zusammenhang der Geschichte des Shiatsu etwas genauer nachgehen, da sie in meiner Ausbildung praktisch keinen Stellenwert eingenommen hatte. Meine LehrerInnen bezogen ihr Shiatsu damals auf Masunaga und Ohashi. Da bekanntlich nichts aus dem Nichts entsteht wurde ich neugierig, auf wen Masunaga sich bezogen hatte, und was noch vorher war. In meinen vergilbten Lehrbüchern fand ich nur wenige Anhaltspunkte. So beschritt ich den in der heutigen Zeit üblichen Weg: ich googelte. Ich gab „Shiatsu, Geschichte“ ein, in Deutsch und in Englisch. Ich vernetze mich mit der weltweiten Shiatsu-Community. Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Eine Fülle widersprüchlicher und inkonsistenter Angaben quoll mir aus dem Bildschirm entgegen. Auf Konsterniertheit folgte der Ehrgeiz, das Gestrüpp zu entwirren. Die Beantwortung der scheinbar einfachen Frage entwickelte sich jedoch unversehens zur mehrmonatigen Odyssee. Das Ergebnis? Die meisten Angaben sind falsch. Mein Beitrag zeigt auf, was wir heute als korrekt erachten müssen, und weshalb.

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Shitzuto Masunaga beklagte sich bereits 1977 in einem Aufsatz, wie stark sich in der erst kurzen Geschichte von Shiatsu Legenden und Wirklichkeit über dessen Ursprung vermischen.[1]S. Masunaga, Shiatsu et médicine orientale, Le Courier du Livre 1999 Dies hängt zunächst mit dem Anspruch vieler Schulen und Verbände des Namikoshi-Shiatsu zusammen, dass Tokujiro Namikoshi (1905 – 2000) der Erfinder des Shiatsu gewesen sei (siehe zum Beispiel www.shiatsupractor.com). Sie stützen ihre Aussage darauf ab, dass er als Siebenjähriger seine Mutter per Handauflegen von rheumatischer Arthritis geheilt haben soll. Diese Argumentationsweise hat sogar Eingang ins englischsprachige Wikipedia gefunden, wo die Geschichte des Shiatsu mit dem Handauflegen des 7-Jährigen ihren Anfang nimmt (www.wikipedia.com). Tokujiro Namikoshi kommt unbestritten eine herausragende Bedeutung für die Entwicklung des Shiatsu zu. Er hat es geschafft, dass Shiatsu in Japan als eigenständige Methode staatlich anerkannt wurde. „Japanisches Shiatsu ist Namikoshi-Shiatsu“, soll Prof. Serizawa in der Festrede zum 85. Geburtstag von Tokujiro Namikoshi gesagt haben. Dies würdigt die bedeutende Rolle von Namikoshi. Es ist aber keine gültige Aussage in Bezug auf die Erfindung von „Shiatsu“.

Der Name Shiatsu wurde erstmals von einem ganz anderen Mann zur Bezeichnung seiner professionell ausgeübten und unterrichteten Manual-Methode gewählt. Er verband mit der neuen Bezeichnung das Ziel, seine Methode von Anma abzugrenzen, das seine traditionell therapeutische Ausrichtung verloren hatte und primär zu einer Wellness-Behandlungform geworden war. Shiatsu als Methodenbezeichnung wurde unbestrittenermassen von dem Mann „erfunden“, der 1919, also vor 90 Jahren, das Buch „Shiatsu-Methode“ veröffentlicht hatte. Namikoshi war zu jenem Zeitpunkt gerade 14-jährig. In der Literatur und beim Googeln finden wir den Erfinder des Shiatsu meist unter folgenden Namen: Tenpeki Tamai bzw. Tamai Tenpeki, oder aber Tempaku Tamai bzw. Tamai Tempaku. Ich wollte wissen, wie er wirklich geheissen hatte. Nach meinen Recherchen bin ich überzeugt, dass die vorgenannten falsch sind. Den richtigen Namen findet man durchaus auch, aber selten.


Tamai: Der Familienname des Erfinders

Ich konnte die bestehende Namens-Vielfalt zunächst kaum fassen. Ich machte mich als Erstes auf die Suche nach einer Kopie des Buchs von 1919. Staunend musste ich im Jahre 2005 zur Kenntnis nehmen, dass dieses Werk im Westen nicht vorliegt, oder dass ich zumindest niemanden fand, der jemanden kennt, der es besitzt. Es ergab sich jedoch, dass Douglas Gattini und Fabio Zagato aus Italien Ende 2006 auf einer Japan-Reise ein Gespräch mit der Witwe von Masunaga führen durften. Sie erhielten von ihr eine Fotokopie des persönlichen Exemplars dieses für Shiatsu historisch wertvollen Buchs. Die Beiden berichteten davon im Rahmen eines Meetings des ISN (International Shiatsu Network). Auf meinen Wunsch hin erhielt ich im Februar 2007 ein Scan des Titelbilds.

Cover "Shiatsu-Methode"

Voller Zuversicht, das Rätsel des Namens nun rasch gelöst zu haben, gab ich das Titelbild drei Frauen zur Übersetzung. Die erste ist japanische Kalligraphie-Lehrerin. Die zweite ist japanische Dolmetscherin. Die dritte ist Professorin für Japanologie an der Universität Basel. Jede der Drei ist eine sehr kompetente und vertrauenswürdige Person.

Hier, was sie mir berichteten. Die vier grossen Zeichen der mittleren, breiten Spalte des Titelbilds heissen von oben nach unten gelesen: Shi (Finger) Atsu (Druck) Ryo (Gesamt) Ho (Technik bzw. Methode).

Der linke Text auf der rechten Spalte beinhaltet zuerst den Namen des Autors und den Zusatz „geschrieben von“. Der Text rechts ist mit „Begründer der Shiatsu-Technik“ zu übersetzen.

Kommen wir zum Namen. Für alle drei Expertinnen war klar, dass Tamai der Familienname ist. Tamai ist in Japan als ein adliges, dem Kaiserhof nahestehendes Geschlecht bekannt. Soweit so klar.


Tenkei: Der Vorname des Erfinders

Zu meinem grossen Erstaunen gab mir aber jede der drei Personen eine andere Antwort was den Vornamen betrifft. In einem Punkt waren sie sich einig: Es handle sich nicht um einen „gängigen“ Vornamen, sondern um eine Eigenschöpfung, eine Art „Künstlernamen“. Sicherlich falsch sei Tempaku („weisser Himmel“), meinten alle drei übereinstimmend. Die japanische Dolmetscherin ist überzeugt, dass Tenpeki die richtige Übersetzung sei, ein Begriff, der für „blaugrüner Himmel“ steht. Die Kalligrafin übersetzte das Ideogramm dagegen ohne Zögern mit Tenkei. Tenkei ist ein Wortbild für „aufklärender Himmel“. Salomonisch weise sprach die Professorin: Da es sich um eine Eigenschöpfung handle und die japanischen Zeichen in den vergangenen 90 Jahren teilweise massiv vereinfacht wurden, gäbe es nur einen Weg zur korrekten Antwort. „Wenn Sie die genaue Bedeutung des Zeichens wissen wollen, müssen Sie die Familie fragen“, riet mir die Professorin.

Die Tatsache, dass sich Zeichen im Laufe der Jahrzehnte verändern, kennen wir auch bei uns. Vor hundert Jahren war die althochdeutsche Schrift verbreitet, welche von der heutigen Jugend kaum mehr gelesen werden kann. So wurden auch viele japanische und chinesische Ideogramme vereinfacht, nicht zuletzt im Zuge der Druck- und Computertechnik. Dies musste ich am „eigenen Leib“ erfahren: In einem Chinarestaurant zeigte ich einer befreundeten Shiatsu-Lehrerin stolz den ersten Entwurf des Titelbilds meines Buchs, auf dem in japanischer Schrift Shiatsu aufgemalt war. Die Kellnerin, eine Chinesin, warf mir einen Blick über die Schultern und sagte rasch und bestimmt: „Das falsch!“ „Was falsch?“, fragte ich fassungslos. „Hier fehlt ein Strich!“ Ich konnte es nicht glauben, dass meine Kalligraphin einen Fehler gemacht haben soll. Beim Nachforschen stellte ich fest, dass beide richtig lagen, die Kellnerin und die Kalligraphin. Das heute verwendete japanische Zeichen für atsu wurde im Zeitverlauf um einen Strich mehr vereinfacht als das chinesische. Wenn man jedoch das Zeichen atsu auf dem Titelbild von Tamais Buch mit dem heute verwendeten Zeichen vergleicht, so erkennt man unschwer, dass es 1919 viel komplexer aufgebaut war. Die Vereinfachung gilt allerdings nicht für alle Zeichen. So hat sich das Ideogramm Shi seit dem ersten Erscheinen von Tamais Buch nicht verändert, da es damals schon ein einfaches Zeichen war.

Zurück zur Herausforderung, den Vornamen zu klären. Wie soll ich es schaffen, die Familie Tamai ausfindig zu machen, um sie fragen zu können? Ich schien am Ende meines Lateins. Da kam mir – ohne es zu wissen – Françoise Bintz, die Vertreterin des französischen Shiatsuverbands im ISN zu Hilfe. Sie lieh mir das bereits zitierte Buch aus, das mehrere Aufsätze von Masunaga vereint, und leider nur in französischer Sprache erschienen ist. Darin findet sich ein Beitrag über die Geschichte des Shiatsu, über seine eigene Entwicklung und über die Beziehung seiner Eltern zu Shiatsu. Das französische Buch hat die ersehnte Namens-Klärung gebracht: Masunaga benutzte den Vornamen Tenkei. Er musste es wohl wissen. Shizuto Masunaga selbst hatte Tenkei Tamai als Vierzehnjähriger kennen gelernt. Seine Mutter war damals dessen Assistentin gewesen, und sie hatte viele seiner Kurse organisiert. Dem Rat der Professorin folgend steht für mich heute fest: Der Erfinder des Begriffs Shiatsu heisst Tenkei Tamai.

Aber was bedeutet diese Erkenntnis? Masunaga verweist in diesem Zusammenhang auf S. Ogoru, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene Bücher zu Shiatsu verfasst haben soll. Ogoru hätte betont, dass Tamai zwar den Namen erfunden habe, nicht aber die Technik selbst, die er bei seinem Lehrer studiert hatte. Wenn also die sprachliche Namensforschung zu Shiatsu heute abgeschlossen werden kann, so gilt dies längst nicht für die fachliche Geschichtsforschung. Der Baum Shiatsu ist aus verschiedenen Wurzeln hervorgegangen, die weit hinter das Buch von Tenkei Tamai zurück verfolgbar sind. Und er hat in den vergangenen Jahren auch viele neue Äste und Zweige ausgebildet. In meinem Buch habe ich versucht, die grossen Linien heraus zu arbeiten, soweit sie mir bekannt wurden.


Shiatsu-Technik: Das Buch

Wofür stand 1919 der Begriff Shiatsu eigentlich? Auch diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Tamais Technik basierte gemäss Masunaga auf Ampuku-Zukai („Ampuku durch Bild“). Ampuku-Zukai war der Titel eines Lehrbuchs, das 1827 von einem der ranghöchsten buddhistischen Mönche Japans veröffentlicht worden war. Dieser war selbst durch Ampuku von einer schweren Krankheit geheilt worden. Arbeitsziel von Ampuku-Zukai war, „mit inspirierter Hand“ tiefe Knoten und Verspannungen im Bauch zu lösen. Das Buch war gemäss den Ausführungen von Masunaga rein praktisch orientiert und verzichtete auf theoretische Ausführungen. Der Autor (Jinsai Ohta) wandte sich gegen das vereinfachte „moderne“ Anma und betonte den therapeutischen Nutzen seines Ampuku.

Im Buch Shiatsu-Ryoho verband Tenkei Tamai gemäss Masunaga westliches Wissen mit traditionellen Behandlungsformen. Die theoretischen Ausführungen im Buch seien auf die westliche Anatomie und Physiologie bezogen. Tamai soll zudem betont haben, dass man „spirituelle Kraft“ benötige, um mit den Händen heilen zu können.

Eine genaue Übersetzung des Buchs fehlt und wird aus Kostengründen so schnell leider nicht vorliegen. Auf meine Anregung hin hat sich Douglas Gattini vorgenommen, im 2009 eine italienische Zusammenfassung des Inhalts anfertigen zu lassen. Sobald diese vorliegt, werden wir zum 90jährigen Jubiläum des Wortes Shiatsu endlich wissen, was genau damit bezeichnet wurde.     

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© Peter Itin (http://peteritin.wordpress.com), Shiatsu-Therapeut und Kursleiter in der Schweiz. Autor von “Shiatsu als Therapie”.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 S. Masunaga, Shiatsu et médicine orientale, Le Courier du Livre 1999