Die Chakren im Shiatsu (Carola Beresford-Cooke)
Übersetzung: Anne Frederiksen
Es gibt viele Traditionen, die das menschliche Energiefeld beschreiben. Sie tun das in einer Vielzahl von verschiedenen Begriffen und Referenzpunkten, denen wir bei unserer Lektüre begegnen, wenn wir mehr über dieses wunderbare und mysteriöse Phänomen, das die Basis unseres Lebens ist, herauszufinden versuchen. Wir unsererseits als Entdecker haben oft nicht mehr als ein intuitives Empfinden oder ein Gefühl bei unserem Kontakt mit der menschlichen Energie. Dieses Gefühl könnte durchaus mit dem übereinstimmen, was wir gelesen haben, aber es könnte auch ein ganz anderes ein. Setzen wir einmal voraus, dass unser Kontakt mit dem menschlichen Energiefeld nicht-intellektueller Natur ist und dass es schwierig ist, die Verschiedenheit und Kompliziertheit der Systeme zu beschreiben, so ist es umso schwerer, unsere Erfahrung in ein System einzuordnen (mit anderen Worten, unsere Erfahrung im Behandlungsraum in das theoretische System einzuordnen, das wir während unserer Ausbildung gelernt haben), ganz zu schweigen von mehr als einem.
Wenn wir also bei unserem Klienten auf Zonen treffen, die mit den Chakren in Beziehung stehen und wir dann versuchen, mehr über die Chakren, die Merkmale des Vedischen Systems sind, herauszufinden, gibt es unter Umständen nichts Vertrautes, das wir mit der theoretischen Struktur von Shiatsu in Zusammenhang bringen können oder gar mit unseren eigenen Erfahrungen. Das System der Elemente mag ein Berührungspunkt sein, aber im Vedischen gibt es vier Elemente, nicht fünf, und sie stimmen mehr mit dem westlichen als mit dem chinesichen System überein. Ich will von den Komplikationen gar nicht reden, die aufgrund der verschiedenen Shiatsu-Modelle entstehen können.
Ich glaube aber fest daran, dass es eine Wahrheit gibt, die darunter liegt und die all die Myriaden von Manifestationen und Erfahrungen der physischen und energetischen Reiche verbindet. Unterschiede verschwinden, wenn wir unsere Brennweite justieren, eine Linse oder ein Filter ändern, denn dann kommt die Wahrheit in Sicht.
Fasziniert von den Erfahrungen, die ich in meiner eigenen Entwicklung und der meiner Klienten gemacht habe, bin ich schon seit langem an Chakren interessiert. Für mich scheinen sie unter anderem die Zentren für die Wahrnehmung und die Verarbeitung von Erfahrungen zu sein. Wenn sie existieren – und meiner Erfahrung nach tun sie das –, dann haben sie eine Beziehung zur Welt des Ki und können somit in Begriffen interpretiert werden, die wir als Shiatsu-Praktiker auch verstehen können. Allerdings müssen wir zuerst die Modelle, die wir benutzen, auseinandernehmen, um zu ihren bloßen Wesensmerkmalen vorzudringen, das heißt, herauszufinden, was ihnen gemeinsam ist.
Wir wollen hier das Vedische Modell und das TCM-Modell des menschlichen Energiefeldes untersuchen, deren gemeinsames Merkmal der innere Kern ist.
Der innere Kern
Die meisten Modelle des „menschlichen energetischen Körpers“ werden mit einem inneren Kern oder einem zentralen Kanal dargestellt, in dem die Energie vertikal durch den Rumpf verläuft. Dies ist auch ein Merkmal unseres physischen Selbst. Eine zentrale Struktur erscheint in den Embryos fast unmittelbar nach der Empfängnis (sie ist bekannt als „primitiver Strich“/“Urstrich“) und formt die Basis für das „Neuralrohr“ („neural tube“). Sie ist eine zentrale Längsstruktur, neben der sich dann der Magen-Darm-Kanal entwickelt. Später schließt sich der Zentralkanal mit anderen physischen Längsstrukturen an, wie dem Zentralen Nervensystem und der Anordnung der Drüsen im endokrinen System.
Der innere Kern des Vedischen Modells
Im Vedischen System wird der innere Kern sushumna genannt, und um ihn herum bewegt sich spiralförmig ein „positiver“ und „negativer“ Fluss (ida und pingala genannt) nach oben und unten. Einigen Quellen zufolge ist der aufsteigende Fluss der Pfad der Transformation, auf dem die Schwingungen immer feiner und weniger materiell werden. Der absteigende Fluss ist der Pfad der Manifestation, auf dem die Schwingungen immer physischer werden.
Die sieben Chakren (Chakra bedeutet „Rad“) befinden sich entlang des Zentralkanals. Ihre Lage wird oft nur scheinbar präzise wiedergegeben, denn es gibt in der Tat große Unterschiede zwischen den verschiedenen Darstellungen. Manchmal heißt es, ein Chakra befinde sich auf der Rückseite, manchmal auf der Vorderseite des Körpers. Auf einigen Darstellungen wiederum befinden sich die Chakren sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite. Es gibt zudem einen weit verbreiteten Unterschied in der Längsplatzierung der Chakren, besonders des zweiten und dritten Chakras. Einige Quellen erwähnen ein Chakra am Kreuzbein, andere im unteren Bauch, wieder andere am Bauchnabel, einige am Solarplexus, und es kann verschiedene Kombinationen dieser Positionen geben. Auch die Lage des Halschakras zum Beispiel wird nur sehr vage beschrieben.
Der innere Kern im Chinesischen/Japanischen Modell
Im fernöstlichen Modell der menschlichen Energiestruktur, wie in der TCM dargestellt, gibt es ebenfalls einen inneren Kern, obwohl er anders interpretiert wird. Das Lenkergefäß und das Konzeptionsgefäß (es wird gesagt, sie seien die Längsstruktur, die sich bei der Empfängnis entwickelt, wenn das Ei sich zum ersten Mal zweiteilt) und die innere Verbindung dazwischen – das Durchdringende Gefäß, Chong Mai genannt –, stellen den Zentralkanal dar, unsere Verbindung zwischen Himmel und Erde. Die klassische Niere auf der Vorderseite des Körpers und die Blase auf der Rückseite dehnen ihren Einfluss nach außen aus, was darauf hindeutet, dass der Zentralkanal Tiefe und Breite hat. Wir können ihn uns als einen strahlenden Energiekern tief in unserem Körper vorstellen, ausgerichtet an der Wirbelsäule, dem Zentralen Nervensystem und dem endokrinen System. Wie ein Magnet im Zentrum eines elektromagnetischen Feldes erzeugt er das ganze energetische Feld des Körpers und somit auch die Meridiane.
Dieses Konzept wird durch die Theorie untermauert. Das Konzeptions- und das Lenkergefäß sowie der Chong Mai gehören zu den Außerordentlichen Gefäßen. Sie werden kurz nach der Empfängnis geformt und regieren die Entwicklung des Embryos im Mutterleib. Sie organisieren die Essenz und das Quellen-Ki während der vorgeburtlichen Phase. Sie werden vom Nierenmeridian auf der Vorderseite des Körpers, vom Blasenmeridian als deren Helfer und Vollstrecker auf der Rückseite flankiert. Diese Meridiane bilden das Bindeglied zwischen unseren Essenzreserven beziehungsweise dem Quellen-Ki und haben Zugang zu unserem ursprünglichen Yin und Yang, der Quelle unserer Existenz.
Wo Essenz ist, muss auch Shen oder Geist sein. Im täglichen Sprachgebrauch in China werden die Wörter Jing (Essenz) und Shen (Bewusstheit) nie allein verwendet; vielmehr wird das Wort jingshen (vitaler Geist, geistige Kraft) benutzt, um die Untrennbarkeit des Bewusstseins von seiner physischen Verkörperung auszudrücken. Somit ist auch Shen Teil des inneren Kerns des menschlichen Wesens, das Feuer im Wasser, der Himmel, der das irdische Reich berührt.
Die Chakren als solche existieren im Fernöstlichen TCM-Modell nicht. Bestimmte Punkte oder Gruppen von Punkten jedoch – sowohl in Lage und Funktion – weisen auf die Wichtigkeit der verschiedenen Regionen des Zentralkanals hin. So haben wir zum Beispiel Lenkergefäß 20 auf dem Kronenchakra, Yin Tang am Dritten Auge, Konzenptionsgefäß 17 am Herzchakra und Konzeptionsgefäß 1 am Wurzelchakra.
Die Meridiane im Vedischen Modell
Es sei erwähnt, dass es in der Tat Meridiane und Punkte im Vedischen System gibt – zumindest jedenfalls, soweit ich weiß, in der Medizin des Südlichen Indien und Nepals. Es gibt eine Tradition – von den Indern bejaht, von den Chinesen jedoch bestritten –, die besagt, dass die Kampfkünste und das Meridiansystem von Indien mit dem Mönch Bodhidarma nach China gekommen sind. Ich habe aber über das Vedische Meridiansystem keine ausreichenden Kenntnisse.
Die Meridiane im Chinesischen/Japanischen Modell
Was ist ein Meridian? Vielleicht kann man ihn am einfachsten so beschreiben: Ein Meridian ist „eine Zone, über die man durch Berührung Zugang zum dynamischen Inneren des menschlichen Energiesystems bekommt“. Es ist wichtig, dies zu verstehen, wenn wir Zugang zu den Chakren über die Meridane bekommen wollen. Wir benutzen die Meridiane, um zum inneren Kern der Körperenergie zu gelangen. Während wir keine Schwierigkeiten haben, einige der Chakren mit Punkten auf dem Zentralkanal zu identifizieren, ist es eher ein Rätsel, wie die anderen Meridiane in das Bild hineinzupassen, besonders wenn wir noch nach dem Prinzip arbeiten, dass die Meridiane Linien oder Kanäle auf der Oberfläche des Körpers sind. Clifford Andrews’ und Pauline Sasakis bahnbrechende Arbeit hat gezeigt, dass das Meridiansystem ein Phänomen ist, das zum Feld gehört, nicht nur eine Ansammlung von Linien auf der Oberfläche. Diese Perspektive also sollten wir uns zueigen machen, wenn wir uns die Chakren anschauen.
Auf dem Weg zu einer vereinenden Theorie der Chakren
Wir sind einer Verbindung von Meridianen und Chakren noch nicht wesentlich näher gekommen, wenn wir nicht eine vereinende Theorie finden, die die Meridiane und den zentralen Kern verbindet. Diese vereinende Theorie könnte in einem einzigen Bild zusammengefasst werden – dem einer Orange.
Die Außenseite einer geschälten Orange zeigt die Linien, die wir uns als Meridiane vorstellen können, jede ist mit dem Kern verbunden. Die Orange repräsentiert hier das menschliche Energiefeld in Ruhe und ist ganz und gar ausgeglichen. Die Meridiane dehnen sich in das Feld um den Körper herum aus und tief in ihn hinein, sie befinden sich nicht nur auf der Körperoberfläche.
Wenn wir die Orange halbieren, können wir den Kern, den Zentralkanal sehen. Dieser verbindet sich mit allen Meridianen, da der zentrale fasrige Teil einer Orange durch die Membran zwischen den Segmenten mit allen Linien an der Außenseite der Orange verbunden ist. Jetzt können wir uns den strahlenden inneren Kern des Menschlichen Energetischen Feldes vorstellen und erkennen, dass alle Chakren entlang des Zentralkanals liegen. Da der Zentralkanal die Energie aller Meridiane enthält, enthält auch jedes Chakra die Energie aller Meridiane. Jeder Meridian wird sich auf einer unterschiedlichen Schwingungsebene in jedem Chakra manifestieren.
Wir sollten uns die Chakren nicht als bestimmte Strukturen vorstellen, sondern als verschiedene Frequenzen entlang des Zentralkanals, der das Feld erzeugt. Sie haben keine absolut genaue Lage und der Einfluss eines jeden Chakras verschmilzt mit dem nächsten. Die Frequenzen bewegen sich von erdnah in den unteren Chakren bis hin zu himmelsnah in den oberen. Dies ist den verschiedenen Ki-Qualitäten in den verschiedenen Bereichen des Dreifacherwärmers ähnlich, wie wir es aus den Shiatsubüchern kennen. Der Obere Erwärmer ist wie Nebel, der Mittlere Erwärmer ist wie ein brodelnder großer Kessel und der Untere Erwärmer wie ein Abwassergraben.
Die Unteren Chakren sind somit mehr mit unserem physischen Körper und unseren Instinkten verbunden, die oberen mit unserer feineren Wahrnehmung. Wir müssen allerdings die orthodoxen hinduistischen Ansichten, dass man die unteren Chakren hinter sich lassen solle, die oberen hingegen kultivieren und entwickeln, nicht übernehmen. Wir arbeiten schließlich mit einem System, in dem Yin und Yang gleichermaßen wichtig sind und in dem es einen Himmel ohne die Erde nicht geben kann. Das Kronen- und Wurzelchakra als die beiden Enden des Zentralkanals, sind untrennbar miteinander verbunden und von einander abhängig wie Yang und Yin. Es wäre unmöglich, die Wurzel hinter sich zu lassen und die Krone zu verwirklichen.
Das Wort Chakra heißt, wie oben erwähnt, im Sanskrit „Rad“. Das bedeutet traditionell eine radförmige Struktur auf der Oberfläche des Körpers. Aber nehmen wir einmal an, wir schneiden unsere Orange quer durch. Ist es dann nicht wahrscheinlich, dass das „Rad“ der Einfluss der Chakren ist, der sich zur Oberfläche des Feldes hin durch alle Meridiane hindurchbewegt? (Dieser Einfluss ist offenbar nicht nur auf die Lage der Meridiane beschränkt, sondern strahlt aus – es ist nur so, dass das Meridianmodell ein bestimmter Weg ist, wie wir Shiatsu-Praktiker in das Energiefeld „eintreten“.)
Somit können wir folgende Punkte vielleicht als eine Arbeitshypothese nehmen:
- Bevor sich der physische Körper entwickelt, erschafft der Zentrale Kern das ganze Feld und die Meridiane – der Chong Mai wird als der „See der zwölf Meridiane“ bezeichnet
- Die Meridiane vermitteln zwischen dem Kern und den Grenzen des menschlichen Feldes
- Die Chakren repräsentieren verschiedene Schwingungsfrequenzen entlang des Kerns
- Die Qualitäten aller Meridiane sind in allen Chakren präsent, sie manifestieren sich unterschiedlich, je nach Frequenz des Chakras
Aber dies sind wirklich nicht die wichtigsten Dinge, die wir über die Chakren wissen müssen. Dies ist nur ein Weg, die Informationen neu zu ordnen, um Konflikte zwischen den theoretischen Modellen zu vermeiden.
In Wahrheit sind die Chakren, wie wir sie erleben, eine tiefe, reiche und vibrierende Begegnung mit Energie. Kürzlich meldete sich ein Student der Akupunktur bei mir per Email, der seine Abschlussarbeit über „Chakra-Akupunktur“ schrieb. Ich freute mich, ihm sagen zu können, was ich glaubte, bis ich merkte, dass er die Realität der Chakren über die Theorie erfahren wollte – das freilich ist nicht möglich. Diese Zentren sind unsere Verbindung mit unserem Ursprung; sie sind für jeden von uns unterschiedlich und können Quelle für Gefühle, Farben, Bilder und für den Kontakt mit unserem inneren Selbst sein. Sie ändern sich ständig.
Das Wichtigste an den Chakren für uns Shiatsu-Praktiker ist nach meinem Empfinden nicht so sehr, wie wir mit ihnen in unserem Klienten Kontakt aufnehmen, sondern wie wir sie in uns selbst wahrnehmen. Das Bewusstsein über diese vitalen Zentren in ihrem eigentlichen Sinn erweitert unsere Erfahrung davon, was es heißt, lebendig zu sein und hilft uns zu einem größeren Verständnis über die unglaublich vielfältigen Manifestationen der menschlichen Energie. Wir können viel vollkommener mit unseren Klienten mitschwingen, wenn wir dieses Mitschwingen in uns selbst in all seinen verschiedenen Aspekten erlebt haben.
Aus diesem Grund verwende ich auf den Chakren-Workshops, die ich allein oder mit meiner Lehrerkollegin Annie Cryar gebe, genauso viel Zeit auf Musik, Bewegung und auf die Erfahrung mit jedem Chakra in uns selbst als darauf, wie wir die Chakren in unserer Shiatsu-Praxis berühren können. Die Chakren in die Shiatsu-Theorie einzubeziehen, ist ein kleines Extra, der Zuckerguss sozusagen auf dem Kuchen!
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© Carola Beresford-Cooke ist Shiatsu-Praktikerin und -Lehrerin und Autorin diverser Bücher. Sie lebt und unterrichtet in Wales (veröffentlicht in Shiatsu Journal 44, Frühjahr 2006)